Vor kurzem fand im Xplanatorium Herrenhausen, Hannover eine Veranstaltung statt, die ich dir sehr empfehlen kann. Sie trägt den Titel: „Zwischen Promille und Publicity: Was Kommunikation über Alkohol und Sucht ausmacht“ und wurde von Prof. Dr. Eva Baumann und Dr. Anna Freytag vorgetragen. Beide sind Wissenschaftlerinnen am Institut für Journalistik und Kommunikationsforschung der Hochschule für Musik, Theater und Medien in Hannover. Ich finde diesen Hintergrund so spannend, weil ich selbst studierte Medienmanagerin bin. Seitdem ich in der #nüchtern-Bewegung aktiv bin, mache ich mir deswegen immer wieder selbst Gedanken, wie man das Image der Nüchternheit positiv beeinflussen kann.
Ich fand diese Veranstaltung richtig groß. Ich fand sie groß, weil sie zum Beispiel von der Volkswagenstiftung veranstaltet wurde. Diese genießt in Niedersachsen einen unheimlich guten Ruf. Man verbindet damit Souveränität und Seriosität; also eine gewisse Ernsthaftigkeit und Vertrauenswürdigkeit gehen mit Veranstaltungen der Volkswagenstiftung einher.
Ideal für ein breiteres Publikum
Für viele, die sich schon lange mit Nüchternheit, alkoholfreiem Leben und seelischer Unabhängigkeit auseinander setzen, brachte dieser Abend gewiss keine neuen Erkenntnisse. Was ich aber an dem Vortrag so schätze, war, dass er so neutral wissenschaftlich gehalten wurde. Mit anderen Worten: Ich kann ihn an sehr viele Menschen außerhalb der Sorbriety-Szene schicken. Er regt dazu an über das eigene Trinkverhalten nachzudenken und die Art und Weise, wie im Allgemeinen über Alkohol und Alkoholismus gesprochen wird, zu hinterfragen. Tatsächlich habe ich im Publikum einen ehemaligen Marketingchef von mir getroffen. Zuerst war mir das sehr unangenehm, aber am Ende des Abends dachte ich: Wie cool, dass er da war und wie schön, dass er den beiden Vortragenden zugehört hat. Vielleicht beeinflussen ihre Erläuterungen ja etwas in seinem Leben? Außerdem habe ich den Link zum Vortrag an eine meiner Cousinen geschickt, weil diese Veranstaltung nichts Belehrendes an sich hatte. Er ist also nicht nur ein Vortrag für uns Abstinenzler, sondern generell für ein breiteres Publikum.
Was mich inhaltlich abgeholt hat
Während des Vortrags wurden einige Zahlen an die Wand geworfen, die mir schon bekannt waren, bei denen es aber dennoch gut war, dass sie dem Publikum zugänglich gemacht wurden. Anhand der ganzen Zahlen habe ich gemerkt, wie viel Recherchearbeit die beiden Sprecherinnen in die Präsentation gesteckt haben. Hut ab! Zudem hat mir die Art und Weise gefallen, wie die Fragen aus dem Publikum am Ende der Veranstaltung beantwortet wurden. Aus den Antworten lässt sich eine fundierte Wissenskompetenz ableiten. Anders könnte man einen solchen Diskurs nicht führen.
Besonders hat mich gefreut, dass es eine Folie gab, die die Vielfalt der ganzen Podcasts widergespiegelt hat, die es zu dem Thema bereits gibt. Also zum Beispiel The new me orders tea, der Lovesober Podcast von Chris, der Frau Brehmer trinkt nicht mehr Podcast oder der „Nie wieder Alkohol“ Podcast von Dennis uvm. Ich finde diese Vielfalt wichtig, weil jeder Podcast-Host anders ist und so vermeintlich eine andere bzw. weitere Zielgruppe anspricht. Diese Folie zeigte somit, dass die beiden Vortragenden den Markt und die damit einhergehende Medienlandschaft also richtig gut kennen.
Ein weiteres Thema, das auf einer der Folien angesprochen wurde, war die Sache mit der Stigmatisierung der Angehörigen. Das wurde bei dem Teufelsdreieck in der Ecke unten rechts erwähnt, Minute 49:53 im Video. Ich glaube, dass das den wenigsten Trinker*innen bewusst ist, dass selbst die Angehörigen häufig niemanden haben, dem sie sich anvertrauen können, aus Angst vor der Scham oder auch aus Angst die Privatsphäre eines geliebten Menschen zu verletzen. Es gibt viele Gründe, weshalb Angehörige von dem Stigma der Betroffenen nicht befreit sind und deshalb stumm und einsam in dieser ohnmächtigen Situation verharren. Genau aus diesem Grund feiere ich jeden oder jede Influencer*in, die sich diesem so wichtigen Thema annimmt. Stefanie Stahl und Lukas Klaschinski haben dazu zum Beispiel schon ein paar „So bin ich eben“-Folgen produziert:
Der gesellschaftliche Wandel
Ich finde, dass diese Veranstaltung ein gelungenes Beispiel dafür war, wie wir innerhalb unseres Umfeldes ein Stück mit dazu beitragen können, wie ein gesellschaftlicher Wandel in Richtung positiver Nüchternheit stattfinden kann. Es gibt ein paar Ebenen, die wir beeinflussen können: beruflich, privat, gesellschaftlich bzw. politisch. Eva lebt nun seit über zwei Jahren nüchtern, wie sie mir sagte. Als Professorin hat sie aus rein beruflichen Gründen per se schon einen recht großen Wirkungskreis. Sie schöpft für unsere #nüchtern-Bewegung ihr berufliches Wirkungsfeld aus und initiiert mithilfe ihres Teams eine Veranstaltung der Volkswagenstiftung. Gewiss hat sie damit dem ein oder der anderen im Publikum geholfen eine Tür hin zu einem alkoholfreien Leben zu öffnen, die vorher vermeintlich verschlossen war. Dieses Thema, in dem Rahmen, in dieser Lounge des Xplanatoriums Herrenhausen, mit einer alkoholfreien Bar am Veranstaltungsabend hat in meinen Augen so noch nie stattgefunden. Das ist das, was dabei so neu für mich ist. Es tut sich etwas hierzulande. Das Thema wird sichtbar. Ich bin so dankbar, dass ich diese Entwicklung miterleben darf. Ich bin voller Stolz auf Eva und ihre Kollegin Dr. Anna Freytag, dass sie uns diesen gelungenen Abend beschert haben.
Falls du nun also neugierig auf diese Veranstaltung geworden, kannst du sie dir auf dem YouTube-Kanal der Volkswagenstiftung anschauen:
Im Gespräch ließ Eva andeuten, dass sie und ihr Team zukünftig noch mehr zu dem Thema forschen möchten; also zu Themen wie Alkoholismus und Sprache, wie Stigmatisierung wirkt und wie man Präventionsarbeit möglichst niedrigschwellig gestalten kann. Dabei möchte sie das Themenspektrum Sucht, insbesondere Alkoholabhängigkeit, aber auch die kommunikativen Herausforderungen der Nüchternheit noch genauer unter die Lupe nehmen. Denn das Stichwort an einer psychischen Erkrankung zu leiden, ist ja heute noch in vielen Kreisen ein absolutes Tabu und Ausschlusskriterium.
Gerne möchte ich an dieser Stelle noch auf das weite Themenspektrum aufmerksam machen, zu denen Eva im Laufe der Jahre bereits geforscht hat. Dem Grunde nach beschäftigt sie sich mit Gesundheitskommunikation. In meinen Augen ist unter ihren bisherigen Veröffentlichungen einiges dabei, dessen Inhalt auch für dich relevant ist. Diese Themen sind zum Beispiel Depression versus Schizophrenie, mental Health und Resilienz sowie Essstörungen. Eine Auflistung all ihrer bisherigen Veröffentlichungen findest du hier.
Und weil es so gut zu diesem Beitrag über Wissenschaft und Beteiligung der Betroffenen in der Suchthilfe passt, hier noch ein Podcast-Tipp, diesmal vom Sodaklub:
Ich selbst habe mir die Folge eben angehört & fand sie richtig gut. Mika war dieses Jahr nämlich auf dem Suchtkongress in Köln unterwegs und macht so eine Art Live-Berichterstattung mit Judith vom Podcast „Let’s talk about Sucht, Baby“. Mir gefällt auch die Bildauswahl, mit denen Mika und Mia ihre Podcast-Folgen graphisch hinterlegen. In dieser Folge sehr passend zum Suchtkongress in Köln eine Darstellung des Kölner Doms.❤️
Weiterführende Links
zu Evas Arbeit am Hanover Center for Health Communication: www.hc-quadrat.de
zu oben genannter Veranstaltung: