Für mich und meine persönliche Lebensgeschichte war dies eines der wichtigsten Bücher, das ich jemals gelesen habe. Warum das so ist, hängt mit der Kriegsvergangenheit unseres Landes zusammen:
Im Allgemeinen betitelt man die Geburtenjahrgänge von 1927 bis 1947 als Kriegskinder. Da mein Vater 1945 geboren wurde, fällt er genau in diese Generation hinein. Kinder aus dieser Zeit erlitten häufig frühkindliche Vernachlässigung. Zu sehr waren die damaligen Eltern mit anderen Dingen beschäftigt, wie zum Beispiel mit Hunger stillen oder mit dem Erleiden von großer finanzieller Not. Ich lese, dass den Kindern von damals häufig gesagt wurde: „Ihr seid so klein, ihr habt nichts mitbekommen, alle anderen haben es viel schwerer gehabt. Also denkt man als Kind: Nimm dich nicht so wichtig, streng dich an!“ (S.35). Seelische Verstimmungen hatten keinen Platz und keine Daseinsberechtigung. Tränen und Ängste wurden als Schwäche gedeutet, was nicht zuletzt den faschistischen Erziehungsmethoden nach Johanna Haarer im Dritten Reich geschuldet war. Bestimmt hat sich nicht jede Mutter an diese Methode gehalten. Dennoch sickerten Haarers Erziehungstipps ins kollektive Unbewusste. Bis in die 60er Jahre wurde in vielen deutschen Krankenhäusern noch Säuglingspflege nach Haarer betrieben. Auch ich, die 2017 zum ersten Mal Mutter wurde, bekam von der älteren Generation noch gesagt, dass ich mein Neugeborenes ruhig schreien lassen könne, da es die „Lungen stärken“ würde. Bei solchen Aussagen zieht sich mir alles zusammen. Solch ein vermeintliches Wissen wird über Generationen hinweg weitergegeben.
Meine Mutter wurde 1949 in Vietnam geboren. Somit hat sie den Vietnamkrieg in seiner vollen Brutalität hautnah miterlebt. Viele Verhaltensmuster, über die dieses Buch Aufschluss gibt, treffen auf meine Eltern zu: Die vorhandene emotionale Sprachlosigkeit, das zu Funktionieren haben, dass man für positive Gefühle und eine positive Ausstrahlung gewertschätzt wird und all die negativen Gefühle bitte außen vorlässt. Diese eingeimpfte Sparsamkeit. Das Sich-Rechtfertigen müssen, wenn man sich was gönnt. Das ganze Leben nach finanzieller Sicherheit auszurichten und nicht nach Glückseligkeit. Eine Anleitung zum glücklichen Leben und zur freien Entfaltung war durch meine Eltern nur begrenzt möglich. Woher sollten sie auch wissen, wie das geht? Sie konnten ja nur das weiter geben, was sie als Kinder selbst gelernt hatten. Aufgrund der Kriegs- und Nachkriegsjahre war ihr Leben zu sehr von Angst und Mangelerfahrungen geprägt. Unsere Werte sind zu unterschiedlich. Deswegen ist es auch bis heute nicht möglich persönliche Krisen mit ihnen zu besprechen. Die emotionale Sprachlosigkeit meines Elternhauses hatte gewiss auch Einfluss auf meine eigene. Letztendlich habe ich erst durch einen Kurs der gewaltfreien Kommunikation, den ich im Januar 2020 besuchte, ein Vokabular für meine eigenen Bedürfnisse gefunden. Vorher wusste ich tatsächlich nicht, wie man eigene Bedürfnisse verbalisiert. Über Gefühle konnte ich dank meiner Schwester schon immer gut reden. Aber das insbesondere hinter negativen Gefühlen auch Bedürfnisse stecken, das war mir neu. Daran erkennt man, dass ich mich für einen Großteil meines Lebens null um mich selbst und meine eigenen Bedürfnisse gescherrt habe. Zu sehr war ich mit dem Außen beschäftigt. Der Besuch dieses Kurses war somit ein echter Gamechanger in meinem Leben und für meine eigene Nüchternheit.
Bei vielen meiner gleichaltrigen Freunde, deren Eltern rund zehn Jahre später geboren wurden als meine und somit der Boomer-Generation angehören, beobachte ich andere Verhaltensweisen gegenüber ihren Kindern. Ihre Kinder konnten sich schon freier entwickeln. Was ich jedoch dort auch wahrnehme, ist, dass es nicht immer Alkohol sein muss. Ich sehe Kaufsucht, Spielsucht, Esssucht bzw. Zuckersucht, Beziehungssucht, Magersucht, Sportsucht, Arbeitssucht und viele weitere. Mit anderen Worten: Emotionale Abhängigkeit scheint in den Geburtsjahrgängen des Nachkriegsdeutschland eine große Rolle zu spielen. Meistens geht es darum die schöne Fassade nach außen zu wahren, sodass bloß keiner mitkriegt, dass das innere Kartenhaus droht zusammen zu brechen.
Mir hilft es ungemein mir dieser familiären Prägungen bewusst zu werden. In Kapitel acht beschreibt die Autorin, wie man die eigene Familiengeschichte verarbeiten kann und wie sich die eigene Resilienz ausbauen lässt. Das hat mir sehr gut gefallen sowie auch der darauffolgende Ausblick auf heute. Darin wird beschrieben, inwieweit Kriegskinder, die aus anderen Kulturen hier her kommen, heute in Deutschland leben müssen. Manche dieser Kinder kommen verstört an und benötigen Zugang zu therapeutischen Einrichtungen, der ihnen nur selten gewährt wird. Sie leiden unter der ständigen Angst abgeschoben zu werden. Behandelnde Ärzte versuchen bei ihren jungen Patienten deshalb vorrangig die Fähigkeit zur Versöhnung zu fördern. Diese Kinder haben kulturell und sprachlich enorme Kompetenzen und können so ihren Beitrag zur Friedensarbeit leisten, sofern sie gut behandelt werden. In diesen Kindern steckt also enorm viel Potential zu Brückenpfeilern zu mutieren. Dies gilt es zu erkennen und zu fördern.
Ich habe dieses Buch gelesen, weil ich Antworten suchte bzw. Antworten gebraucht habe. Ich wollte eine Antwort darauf haben, warum so viele von uns in Familien groß geworden sind, in denen es ganz normal war Alkohol zu trinken; also mal abgesehen davon, dass Alkohol Teil unserer Kultur ist und hierzulande eine richtig starke Lobby inne hat. Ich wollte verstehen, warum so viele von uns Alkohol zur Selbstmedikation einsetzen, um sich zu betäuben, um runterzufahren. Ich hatte schon lange das Gefühl, dass diese Trinkgelage Überbleibsel aus dem zweiten Weltkrieg sind. Das ein oder andere Mal wurde in diesem Buch von Eltern berichtet, die ihre Probleme mit Cognac „lösten“. „Denn Alkohol gab Halt: Die Flasche wurde zum Ersatzobjekt, zum verlässlichen Partner, der ihm die Beruhigung gab, die ihm im kriegszertrümmerten Deutschland so gefehlt hatte.“ (S.133) Somit lieferte mir dieses Buch einige Antworten auf meine Fragen. Denn das mit dem Krieg hallt nach, und zwar über Generationen hinweg. Dies gilt nicht nur für die ganz alten Kriege, sondern auch für die etwas Neueren: Jugoslawien, Afghanistan, Irak, Kosovo, Syrien. Und das, was Putin gerade in der Ukraine anrichtet, wird noch lange Auswirkungen auf die Familien von dort haben. Dies ist das, was mir dabei am meisten zusetzt. Deswegen ist dieses Buch absolut zeitlos, hochaktuell und verdient mehr Aufmerksamkeit.
Übrigens: Wie es Menschen mit Migrationshintergrund hier so ergeht, lässt sich sehr leicht über einige Folgen des halbe Katoffl-Podcasts erschließen. Nebenbei lernt man unheimlich viel über andere Kulturen und Länder.
Fazit: Ich empfand das Lesen dieses Buches als großes Geschenk. Es eröffnete mir eine Welt, die ich vorher nicht kannte und dadurch konnte ich ein tieferes Verständnis dafür entwickeln, warum meine Eltern so sind, wie sie sind: Kinder ihrer Zeit. Es ist ein versöhnliches Buch. Es hat das Potential zerstrittene Familien wieder miteinander zu vertragen. Es eröffnet Dialoge mit der Elterngeneration, die aufgrund ihres hohen Alters vielleicht jetzt noch geführt werden können, bevor es zu spät ist. Ein lieber Onkel von mir ist vor kurzem sehr plötzlich verstorben. Sein Verlust tut mir weh, weil ich ihn gerne noch so vieles bezüglich Vietnam gefragt hätte. Als ich letzte Woche an seinem Grab stand, schoss mir durch den Kopf, dass wir immer denken, wir hätten noch so viel Zeit, um gewisse Sachen zu klären. Dabei stimmt das gar nicht. Denn manchmal sterben Menschen viel früher als sie eigentlich sollten. Deswegen ist das, was ich aus dieser Geschichte mitnehme, dass ich zukünftig versuche Fragen direkt und sofort zu stellen. Denn ob man nochmal eine Chance dazu bekommt, ist ungewiss.
Falls du neugierig auf das Buch geworden bist, findest du es in jedem Buchladen deiner Wahl oder auch online:
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Einen kleinen Hinweis möchte ich noch loswerden. Anfangs lag mir eine Druckversion aus dem Jahr 2008 vor. In dieser Version sind die Seiten 146 bis 160 doppelt hintereinander abgedruckt und die Seiten 161 bis 176 fehlten. Der Herder Verlag hat diesen Druckfehler mittlerweile behoben. Das heißt: Wenn ihr mit dem Gedanken spielt euch das Buch zu besorgen, dann holt euch eine Auflage, die nach 2008 gedruckt worden ist. Wobei ich denke, dass die Bücher von 2008 heute gar nicht mehr im Umlauf sind. Mein Schwager hatte sich damals das Buch gekauft und mir erst vor kurzem zum Lesen gegeben. Sonst wäre ich wohl nie über diesen Druckfehler gestolpert.
Falls ihr den Familien aus der Ukraine etwas spenden möchtet, hier habe ich eine Übersicht von Hilfsorganisationen und Bankverbindungen gefunden:
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