Als ich heranwuchs, wurde mir das nie erzählt, dass wir Wachstum für Wohlstand bräuchten. Zumindest kann ich mich nicht aktiv daran erinnern. Wenn mir das damals jemand erzählt hätte, dann hätte ich das wohl in Frage gestellt. Später hatte ich nur während meiner kaufmännischen Ausbildung, die ich im Automotive-Bereich absolviert habe, das Gefühl, dass auf diese Kennzahlen des Wachstums unheimlich viel Wert gelegt wird. Dass Menschen stumpf danach agieren ohne deren Sinnhaftigkeit zu hinterfragen. Schon damals kam mir das suspekt vor. Das ist jetzt 20 Jahre her. Was mir während meiner späteren Berufsjahre als Online Marketing Managerin in den eCommerce Unternehmen von heute begegnet ist, darauf möchte ich gar nicht erst eingehen. Den hohen Druck am Arbeitsplatz, der auf allen Mitarbeitenden lastet, den hatte ich schon immer gespürt. In der Arbeitswelt begegnen mir seitdem immer wieder Menschen mit einschlägigen Erschöpfungssymptomen. Mit Gedanken der Freiheit oder Selbstbestimmung hat das herzlich wenig zu tun. Meine Arbeitsverhältnisse in der freien Wirtschaft waren stets von kapitalistischen Tretmühlen geprägt. Demnach habe ich es immer irgendwie gespürt, dass das Diktat des Wachstums uns Menschen nicht gut tut. Ich habe auch häufig über Gefühle des Drucks und der Enge gesprochen. Aber unsere Gesellschaftsform dabei in Frage zu stellen, darauf bin ich nicht gekommen.
Deswegen finde ich Degrowth faszinierend. Für mich ist das auch keine Rezession im wirtschaftlichen Sinne, sondern vielmehr ein Entwurf dafür, wie unser Zusammenleben auf diesem Erdballen in Zukunft aussehen kann. Dadurch, dass Degrowth in sämtlichen Wirtschaftskreisen, auch bei mir zu Hause am Küchentisch, so umstritten ist, finde ich es sehr mutig von Jason Hickel ein Buch auf den Markt zu bringen, dass sich einzig und allein, schon durch seinen Titel „Weniger ist mehr“, darauf stützt.
Hickel wurde 1982 in Swasiland geboren, also einem Land im südlichen Afrika. Der vorliegende Essay wurde also von jemanden verfasst, der seine Wurzeln u. a. im globalen Süden hat. Im Hinblick auf die Klimagerechtigkeit finde ich diese Information relevant für den Inhalt des Buches. Denn jemand, der seine Ursprünge im globalen Süden hat, ist in der Lage von einer ganz anderen Perspektive aus, als die uns bekannte eurozentrische Sichtweise, zu argumentieren.
Jedes Kapitel hatte kurz vor Ende eine eigene kleine Zusammenfassung des zuvor Geschriebenen. Für mich war das sehr hilfreich. Denn das Themenspektrum rund um Degrowth ist komplex bzw. vielschichtig. So hat Hickel das Gesagte noch mal gut auf den Punkt gebracht und es trug zu einem guten Leseerlebnis bei. Dabei möchte ich vorweg nehmen, dass ich das Buch nicht lesen konnte, wenn ich zum Beispiel abends zu müde war. Denn es ist eines dieser Bücher, bei denen zeitgleich ein zehnseitiges Skript meinerseits entstanden ist, weil ich so viel Neues dazu gelernt habe. Da es also mehr wie eine Art Arbeitsbuch für mich war, habe ich irgendwann angefangen es auch tagsüber zu lesen, wenn ich zum Beispiel in der Schwimmhalle auf meinen Sohn wartete, der gerade beim Schwimmunterricht war. Selbstverständlich sind dabei Gespräche unter uns wartenden Eltern über dieses Buch entstanden und ich konnte einfließen lassen, was ich schon alles über Degrowth gelernt hatte. Anscheinend habe ich das sehr begeistert rüber gebracht, weshalb meine Schwimm-Mamis dieses Buch nun auch lesen wollen. Jason Hickel stellt also durchaus spannende Zusammenhänge für ein breiteres Publikum dar. Besonders imponiert hat mir dabei, wie er die Entstehung des Kapitalismus auf den ersten 100 Seiten erklärt hat. Ich fand das so interessant, weil ich momentan als Assistentin am Historischen Seminar der hiesigen Hochschule arbeite und nun eine Vorstellung davon habe, in welchem Jahrhundert, was passiert ist etc.
Außerdem empfand ich Hickels Ausführungen zu der Fragestellung, ob wir Wachstum überhaupt für gesellschaftliches Wohlergehen brauchen sehr inspirierend. Er legt dar, dass zum Beispiel eine gesteigerte Lebenserwartung eigentlich vielmehr mit sanitären Anlagen und Bildung zusammenhängt als mit dem BIP. Dabei öffnet er, wie so oft in diesem Buch, den Blick über die Ländergrenzen hinweg und führt Costa Rica als gelungenes Beispiel an. [S. 203] Ich denke, dass man am Ende des Buches einen guten Eindruck davon hat, was wir Menschen eigentlich brauchen, um ein gutes und erfülltes Leben zu führen. Dass Hickels dabei unseren Blick für andere Länder weitet, begrüße ich sehr, weil das Klimathema tatsächlich eines ist, das wir nur lösen können, wenn alle an einem Strang ziehen. Es ist eine Kooperation erforderlich, die alle Ländergrenzen überschreitet.
Zudem kommt es auch nicht von ungefähr, dass ich bei der Lektüre dieses Buches häufig an zwei meiner liebsten Walt Disney Filme denken musste: An König der Löwen und an Pocahontas. In ‚König der Löwen‘ lernen wir, dass alles in einem empfindlichen Gleichgewicht zusammen lebt, und zwar „von der winzigen Ameise bis hin zur graziösen Antilope.“ Nichts existiert für sich allein. „Individualität ist eine Illusion.„ [S. 314]
In ‚Pocahontas‘ erfahren wir die indigenen Völker zu schützen und zu respektieren. Zudem treffen wir in dem Film auf eine sprechende Eiche, die schon Jahrhunderte alt ist. Gemäß den Ausführungen von Hickel ab Seite 307 ff. ist das gar nicht so abwegig. Denn Bäume können miteinander kommunizieren. Ihr Netzwerk besteht aus Leitungen im Stamm und in den Baumwurzeln. Darüber sprechen Baumkrone und Wurzelspitzen miteinander; zum Beispiel darüber, ob genug Wasser und Nährstoffe da sind. Um mit anderen Bäumen im Wald zu sprechen, verbünden sie sich mit Pilzgeflechten, die den Waldboden durchziehen. So vernetzen sich ganze Wälder.
Die indigenen Völker an der Westküste Nordamerikas nannten „Bäume früher die Baumleute… Die westliche Wissenschaft hat dieses Wissen eine Zeit lang ausgesperrt, und jetzt kehren wir wieder dahin zurück.“ [S. 310] Dem Grunde nach geht es also darum, die Natur wieder zu „vermenschlichen“. Im Sinne der Kolonialisierung bzw. der Einhegungen können so durch Vermenschlichung Mensch und Natur nicht mehr ausgebeutet werden. In der jüngsten Vergangenheit gibt es schon zahlreiche Gerichtsurteile, die in diese Richtung gehen: In Neuseeland wurde 2017 der Whanganui-Fluss zu einer juristischen Person erklärt. [S. 319] Ein paar Jahre zuvor wurde dort der Te-Urewera-Nationalpark ebenfalls als juristische Person deklariert. In Kolumbien garantierte der Oberste Gerichtshof dem Amazonas Rechtsansprüche. Künftig ist es also möglich, alle Handlungen, die diesen Landschaften schaden, mehr oder weniger genauso zu verfolgen wie Beschädigungen gegenüber Menschen. [S. 320] All das sind Entwicklungen, die mich erfreuen und die mich auch ein wenig positiv stimmen. Im Grunde geht es bei Degrowth darum die Gesellschaftsform in keine brandneue, sondern eher in sehr alte Strukturen zurück zu führen, weil alles schon mal da war. Ich finde das sehr anregend. Novalis, ein deutscher Schriftsteller der Frühromantik und Philosoph, würde sagen: In der künftigen Welt ist alles wie in der ehemaligen Welt – und doch alles ganz anders.
Fazit: Hickel hat in diesem Buch nicht nur seine Weltanschauung dargestellt, sondern alles, was er darin schreibt ökonomisch gut begründet. Deswegen lohnt es sich in jedem Fall dieses Buch zu lesen. Ich vergebe vier von fünf Sternen.
Falls du neugierig darauf geworden bist, findest du es in jedem Buchladen deiner Wahl oder auch online: