Nachdem ich im Juli 2014 meinen Führerschein verlor, habe ich rund fünf ein halb Jahre über meine Alkoholabstinenz geschwiegen. Viele Jahre dachte ich, dass dies ausschließlich meinem schambesetzten Verhalten geschuldet war. Also die Scham über die Alkoholfahrt war zu groß, um darüber sprechen zu können. Heute aber bin ich mir sicher, dass mein Schweigen über meine Nüchternheit auch damit zusammen hing, dass mir buchstäblich die richtigen Worte fehlten. Mir fehlten Worte, die zu mir passten, mit denen ich mich identifizieren konnte. Ich halte nichts von Wordings wie nasse oder trockene Alkoholikerin. Ich sage das nicht über mich. Kleinkinder werden trocken. Menschen mit Alkoholproblemen werden nüchtern.
Wenn ich mit diesem Blog erreichen möchte, dass Nüchternheit einen Neuanstrich bekommt, dann müssen wir auch über Sprache reden. Denn Sprache formt unsere Realität.
Labels schränken uns manchmal ein.
Für sehr viele ist es am Anfang wichtig sich nicht Alkoholiker:in nennen zu müssen. Denn wenn ich mich für den Rest meines Lebens nun so nennen muss, möchte ich dann überhaupt als Nüchterne leben? Die Gedanken, die zu diesem Label dazu gehören, sind meine eigenen Projektionen: Also dass ich dann denke, dass ich für immer chronisch krank bin, dass ich den Rest meines Lebens in traurigen Gemeindekellern sitzen werde und den Satz sagen muss „Hallo, ich bin Sonja. Ich bin Alkoholikerin.“ Ich will das nicht und ich will da auch nicht hin.
Wenn wir nüchtern werden, brauchen wir Visionen, zu denen wir hin wollen, für die wir bereit sind, unser Leben zu verändern. Wir brauchen also nicht nur etwas, von dem wir wegwollen, sondern auch etwas, das uns attraktiv erscheint. Die Option Alkoholikerin zu sein und all meine Projektionen, die damit zusammen hingen, waren nicht das Ziel, was ich für mich setzen konnte und wollte, als ich nüchtern geworden bin. Deswegen war es für mich wichtig mich erst mal nicht dazu zu zählen. Denn ich möchte nicht in einer Welt sein, in der ich ständig mit Dingen konfrontiert werde, die ich nicht fühlen möchte. Gleichzeitig ist es aber schön zu erkennen, dass es auch noch andere Labels dafür gibt. Man kann z.B. sagen, dass man nüchtern ist oder abstinent lebt. Das hört sich für mich viel mehr nach einer freien Entscheidung an als ein Label, das mir übergestülpt wurde. Der Satz „Ich lebe nüchtern.“ ist eine stolze Entscheidung, die Würde und Anerkennung verdient. Überhaupt hat jeder Mensch, der aus einer Sucht heraus gefunden hat, mindestens einen Stern auf dem Hollywood Boulevard verdient. Denn das ist tatsächlich etwas Großes. Deswegen: Such‘ dir das Label, das zu dir passt. Eins, mit dem du dich gut fühlst und mit dem du dich am meisten identifizieren kannst: nüchtern, abstinent, sober curious, alkoholfrei, Nichttrinker:in etc.
Die Google Bildersuche
Wenn wir über Sprache reden, möchte ich auch einmal auf die Bildsprache zu sprechen kommen, also wie Nüchternheit oder Alkoholabstinenz im Allgemeinen bebildert wird: Wenn ich in die Google-Bildersuche das Wort „Alkoholabstinenz“ eintippe, springen mir haufenweise zerbrochene Schnapsgläser, leere Wodkaflaschen, Bilder von jungen Menschen nach durchzechten Partynächten oder Bars mit Weinflaschen ins Gesicht. Dabei haben all diese Bilder rein gar nichts mit dem Lebensgefühl Nüchternheit zu tun. Nüchternheit bedeutet für mich der Ursprung meines Seins, mein reines Ich. Morgentau, frische Morgen, Wasserquellen, reine Naturbilder kommen mir da eher in den Sinn, was Nüchternheit eigentlich bedeutet.
Eigentlich hat es sehr viel mit Achtsamkeit zu tun. Leider habe ich keine Ahnung, wie man so einen Google-Suchalgorithmus beeinflussen kann, aber wäre es nicht schön, wenn in Zukunft Nüchternheit anders bebildert werden würde? So könnten Menschen, die sich für ein Leben ohne Alkohol interessieren, mal ein realistisches Bild davon bekommen, was sie tatsächlich erwarten wird, anstelle von zerbrochenen Schnapsflaschen. Momentan wird dir durch die Bilder und Medien suggeriert, dass wir ein Leben zweiter Klasse führen, sobald wir den Alkohol weglassen. Eins das immer traurig ist, grau und düster, ohne Partys. In Wirklichkeit ist das Gegenteil der Fall: Seitdem ich nüchtern lebe, ist alles sehr viel bunter und schärfer geworden. Ich sehe die Dinge klar, ohne Weichzeichner, ohne depressive Phasen, ohne stimmungsschwankende Katerzustände. Es ist immer und zu jeder Zeit genau das Leben, das ich führen möchte. Absolut lebensbejahend.
Zudem ist es ein Leben, in dem es auch mal schwierige Gefühle gibt. Aber auch diese Gefühle haben ihre Daseinsberechtigung. Sie sind da, weil sie gefühlt werden wollen. Das Beste daran ist: Sie gehen irgendwann vorüber. Gleichzeitig sind sie auch wichtige Wegweiser und Wegbereiter. Sie zwingen mich an Stellen zu blicken, an denen ich sonst achtlos vorbei gerauscht wäre. Sie geben mir mit, dass da ein Bedürfnis in mir ist, das noch nicht ganz gestillt wurde. Da ist noch etwas, um das ich mich noch kümmern muss. Wenn ich es schaffe das anzugehen, ist das ein bedeutender Schritt für meine Persönlichkeitsentwicklung.
Das Nüchternheit redaktionell so unrealistisch aufbereitet wird, liegt daran, dass der Alkohol auf diesen Bildern die Hauptrolle spielt. Was wir aber für einen Zugewinnn haben, wenn wir alkoholfrei leben, das wird bis dato noch gar nicht veranschaulicht. Deswegen denke ich, dass es so wichtig ist, dass manche von uns ihre Geschichte erzählen und vor allem darüber sprechen, wie sich ihr Leben zum Positiven gewandelt hat, seitdem der Alkohol keine Rolle mehr in ihrem Leben spielt. Wir brauchen solche Geschichten. Ziele, auf die wir gerne hinarbeiten, damit unser Unterbewusstsein positiv genährt wird in Bezug auf Alkoholabstinenz. Es gibt da diese Parabel von den beiden Wölfen in unserer Seele, die das gut verdeutlicht:
Ein alter Indianer saß mit seinem Enkelsohn am Lagerfeuer. Es war schon dunkel geworden und das Feuer knackte, während die Flammen in den Himmel züngelten. Nachdem sie beide eine Weile geschwiegen hatten, sagte der Alte: „Weißt du, in deinem Leben wird dir vieles widerfahren sowie auch mir vieles widerfahren ist. Manchmal fühlt es sich an, als ob da zwei Wölfe in meinem Herzen gegeneinander kämpfen würden. Der eine Wolf ist der Wolf der Dunkelheit, der Ängste, des Misstrauens und der Verzweiflung. Er bringt dir böse Träume, viel Leid und Schmerz. Der andere Wolf ist der Wolf der Lebensfreude, der Hoffnung und der Liebe. Er bringt dir die guten Träume, schenkt dir Mut und Hoffnung, er zeigt dir den Weg und gibt dir weisen Rat. Diese beiden werden die Zähne fletschen, sich umkreisen, sich an die Kehle gehen bis einer kraftlos zu Boden sinkt.“ Dann schwieg der Alte wieder. Der Junge fragte voller Ungeduld: „Erzähl weiter Großvater…welcher Wolf wird den Kampf um das Herz gewinnen?“ Der Alte lächelte und sagte: “Der Wolf, der am häufigsten gefüttert wird. Darum lebe achtsam und lerne beide Wölfe gut kennen. Und dann wähle jeden Tag von Neuem, welchen Wolf du füttern möchtest.“
Wenn wir es schaffen unsere Abstinenz unterbewusst positiv zu besetzen, dann haben wir eigentlich schon gewonnen. Denn 90 bis 98 % unseres Fühlens und Handelns sind von unserem Unterbewusstsein geprägt. Hirnforscher haben schon vor langer Zeit heraus gefunden, dass wir nur einen ganz kleinen Bruchteil unseres Gehirns benutzen. Sigmund Freud erklärt das mit dem berühmten Eisberg-Modell. Wir haben als unser Bewusstsein nur die Spitze des Eisberges. Der größte Teil des Eisbergs ist unter Wasser. D.h. zwei bis zehn Prozent des Eisberges ragen aus dem Wasser raus, was man auch sehen kann. 90 bis 98 % des Eisberges liegt unter Wasser und ist für uns nicht sichtbar. Genauso ist das mit unserem Bewusstsein und Unterbewusstsein. Deswegen müssen wir den „guten Wolf“ füttern, z.B. mit Sätzen wie
„Ich lebe authentisch.“
„Ich bin klar.“
„Ich lebe bewusst.“
„Ich bin frei.“
„Ich bin unabhängig.“
„Ich führe ein selbstbestimmtes Leben.“
„Ich bin genug.“
Der Begriff des Alkoholikers
Die innere Auseinandersetzung mit dem Begriff Alkoholikerin hat mir unmittelbar nach der Alkoholfahrt aber tatsächlich geholfen keinen Alkohol mehr anzurühren. Damals kannte ich ja nur die Anonymen Alkoholiker. An die Sorbriety-Szene in Deutschland war noch gar nicht zu denken. Ich habe das Wort „Alkoholikerin“ zwar nicht ausgesprochen, aber tief im Inneren wusste ich, dass es doch irgendwie zu dem, was passiert war, passte. Wenn ein Alkoholiker jemand ist, der nicht kontrolliert mit Alkohol umgehen kann, dann bin ich das wohl. Die Auseinandersetzung mit dem damit einhergehenden Krankheitsbild hat für eine gewisse Awareness bei mir gesorgt. Es gab dem Ganzen die Ernsthaftigkeit, die man braucht um nüchtern zu werden. Es war also keine Larifari-Entscheidung. Ich habe dadurch verstanden, wie so ein Suchtgedächtnis funktioniert und wie wichtig es ist, nicht nur seine Alltagstrigger zu kennen, sondern sich auch mit ihnen auseinander zu setzen. Es machte damals mein Nichttrinken zur obersten Priorität meines Lebens. Alles, was kam, wurde dem Ziel des Nüchternseins untergeordnet. Ich gehörte nämlich der Spezies an, bei der erst etwas ganz Schlimmes passieren musste, wie z.B. dem Führerscheinverlust, bis sie verstanden hatte, dass sie ein Alkoholproblem hat. Ich bewundere Menschen, die das schon früher begreifen. Die also von sich aus aufhören ohne riesigen Bockmist gebaut zu haben. Das ist nämlich möglich. Ich habe mir gestern ein Buch bestellt, das von der Freiheit nicht zu trinken handelt. „Berauscht vom Leben“* heißt es. Es behandelt die Frage, ob der Verzicht auf Alkohol das Ende oder der Anfang von etwas ist. Aus der Abwärtsspirale Sucht kann man ja schon viel früher aussteigen. Man muss es nicht bis zum Ende mitmachen, bis man letztlich in einer körperlichen Abhängigkeit steckt oder bis einem der Arzt wegen der schlechten Leberwerte sagt, dass man aufhören soll. Man kann schon viel früher die Reißleine ziehen. Mir ist bewusst, dass die Alkoholfahrt für mich eine Abkürzung war. Wenn ich sie nicht gehabt hätte, hätte ich wahrscheinlich jahrzehntelang so weiter getrunken und wäre letztlich einen Tod auf Raten gestorben. Dieser ewige Kreislauf zwischen grauen Katertagen, sich davon zu erholen, um dann wieder am Wochenende den Rausch zu suchen. Über den Zugewinn des alkoholfreien Lebens, darüber möchte ich dich informieren. Das ist die Hauptmotivation meines Blogs. Natürlich war mein Lebensgefühl damals unmittelbar nach der Alkoholfahrt nicht positiv besetzt, aber der Begriff Alkoholikerin hat insofern dazu beigetragen, dass ich es langfristig verstanden hatte, dass ich keinen Alkohol mehr würde trinken können. Deswegen kann ich jeden verstehen, der gut damit fährt, sich so zu betiteln. Labels und Schubladendenken geben uns nämlich auch manchmal Sicherheit und Richtungen für unsere Verhaltensweisen. Mir hat es geholfen zu begreifen, was da eigentlich mit mir los war. Aber wie oben beschrieben, können diese Labels auch dazu beitragen, dass wir ganz lange weg schauen und eben nicht unser Problem angehen. Dann sind diese Labels nämlich wirklich gefährlich:
Alkohol ist der blinde Fleck unserer Gesellschaft.
Daniel Schreiber, Nüchtern, Hanser Berlin im Carl Hanser Verlag München, 2014, S. 110
Er ist etwas, mit dem man über Jahre hinweg ganz gut über die Runden kommt ohne sein eigenes Trinkverhalten hinterfragen zu müssen. Deswegen hält sich auch das Stigma des Alkoholikers. Wir brauchen das Bild des Alkoholikers, so wie er in all unseren Köpfen herum spukt: Verwahrlost, unter der Brücke schlafend. Jemand, dem man schon äußerlich ansieht, dass ihm sein Leben entglitten ist. Jemand, der körperlich abhängig ist, bei dem morgens die Hände zittern, wenn er sich nicht seinen Wodka ins Müsli kippt. Dieses Bild haben ganz viele von uns vor ihrem inneren Auge, wenn sie an das Stigma Alkoholiker denken. Es führt dazu, dass die Art und Weise wie wir trinken legitimisiert wird. So in der Art: Wir können ja gar kein Problem mit Alkohol haben, weil meine Hände morgens nicht zittern. Bei mir läuft doch alles. Ich stehe jeden Morgen auf, um meinem Brotjob nachzugehen. Ich funktioniere doch so, wie es von mir erwartet wird. Deswegen kann ich doch kein Alkoholproblem haben. Es führt dazu, dass die Alkoholiker allesamt in eine Ecke gedrückt werden, möglichst weit weg von mir auf der Bandbreite zwischen „Ich hebe ganz gern mal einen.“ und dem anderen Ende „Ich bin Alkoholiker.“ Das Stigma bietet uns die Chance, dass wir da nicht hinschauen müssen und genau dann finde ich dieses Label gefährlich und problematisch.
Vielfältige Wege in die Nüchternheit
Der Weg in die Nüchternheit ist ein Individueller. So unterschiedlich wie wir als Menschen sind, so vielfältig sind auch die Wege, die in die Nüchternheit führen können. Nicht jeder Weg passt für jeden. Es gibt viele Wege, die nach Rom führen. Die Anonymen Alkoholiker haben Millionen von Menschen geholfen, aber sie sind nicht jedermanns Sache. Therapien sind oft sinnvoll, aber manchmal auch überflüssig; vor allem, wenn dich der/die Therapeut:in mit deinem Alkoholproblem überhaupt nicht ernst nimmt. Für die einen ist ein stationärer Aufenthalt das Richtige, für andere reicht das richtige Buch zur richtigen Zeit, um aufzuhören.
Mental sah mein Weg in die Nüchternheit so aus: Anfangs habe ich mir die Ernsthaftigkeit und das Bewusstsein für mein Alkoholproblem aus dem Begriff der Alkoholikerin gezogen. Nach rund fünf ein halb Jahren Abstinenz profitiere ich sehr stark von den lebensbejahenden Gedanken des Sorbriety-Movements: Ich bin frei. Ich bin nüchtern. Ich bin unabhängig. Ich fahre also gut aus einer Kombi von den AAs und dem Sober-Movement, wobei ich mir wünschte, dass es das Sober-Movement schon früher gegeben hätte.
Langer Rede, kurzer Sinn: Mir ist es wichtig aufzuzeigen, dass es verschiedene Wege in die Nüchternheit gibt. Es hat einen enormen Mehrwert, dass es eben nicht nur Suchtberatungsstellen, Entzugskliniken, die AAs, die Guttempler oder das Blaue Kreuz gibt, sondern auch ein kleines, aber feines Sober-Movement in Deutschland. All diese Dinge sind super und im besten Fall ergänzen sie sich gegenseitig. Finde den Weg und vor allem die Sprache, die zu dir passen!
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