Für ein positives Leben ohne Alkohol.

Co-Abhängigkeit, Empfehlungen, Sensibilität

Alkohol zerstört Familien

zwei weinende frauen

Bild: Ben White // unsplash

Ein Großteil der Kinder aus suchtbelasteten Familien muss schnell erwachsen werden. Diese Kinder kommen nicht in den Genuss einer unbedarften Kindheit. Eher das Gegenteil ist der Fall: Sie werden ihre Kindheit wohl nie richtig ausleben können. Die Journalistin Christina Rubarth hat dazu mal einen einprägsamen Radiobeitrag erstellt, den ich euch am Ende dieses Beitrags verlinke.

Am stärksten hallte in mir die Aussage nach, dass jedes sechste Kind in einer suchtbelasten Familie aufwächst.[1] Mein Mann arbeitet als Lehrer. In den Klassen, die er unterrichtet, sitzen um die 30 Schüler. Das heißt, dass in jeder seiner Klassen ca. fünf Kinder aus einer suchtbelasteten Familie stammen könnten. In der Kindergartengruppe meines Sohnes sind 25 Kinder. Hier wären mind. vier Kinder betroffen. In der Krippengruppe meiner Tochter wären von 12 Kindern zwei dabei, die einer suchtbelasteten Familie entstammen. Dieses Gedankenspiel kann man noch beliebig ausweiten auf Fußballmannschaften, Chöre, Tanzgruppen etc. Ich frage mich, ob Menschen, wie mein Mann, die Erzieher:innen meiner Kinder in der KiTa, also pädagogisches Fachpersonal, ausreichend für diese Kinder sensibilisiert und geschult sind? Vielleicht gibt es da in einer Gruppe das superreife Mädchen, das alles gewuppt bekommt oder den Klassen-Clown, der alle zum lachen bringt? Und die unscheinbaren, überangepassten Kinder, die bloß nicht auffallen wollen? All dies sind die Rollen-Modelle, die diese Kinder in ihren suchtbelasteten Familien einnehmen können.[2] Vielleicht haben diese Kinder eine ganz große Familiengeschichte im Hintergrund am laufen, von der keiner weiß, weil sie nicht darüber sprechen wollen bzw. dürfen.

Menschen, die von außen kommen, neutrale Bezugspersonen außerhalb der Familie, zu denen man gut ein Vertrauensverhältnis aufbauen kann, sind wichtig für diese Kinder. Darüber zu sprechen, was daheim los ist, sich anvertrauen zu können, ist viel wert. Diese Beobachtung habe ich schon öfters machen dürfen. Deswegen ist es wichtig für Menschen, die in diesen pädagogischen Berufen arbeiten, genau hin zu sehen, geschult zu sein und nicht wegzugucken. Dies gilt übrigens nicht nur für pädagogisches Fachpersonal. Eine vertrauensvolle Person kann auch der Nachbar oder die Nachbarin sein, eine liebe Cousine, der Patenonkel oder Freund:innen sowie Bekannte der Familie. Für diese Menschen gilt: Das Unbesprechbare besprechbar zu machen; Offenheit zu zeigen.

Eine gewaltige Dunkelziffer

Auf der Startseite von NACOA Deutschland e.V. lese ich folgende Zeilen:

  • „Etwa ein Drittel dieser Kinder wird im Erwachsenenalter alkohol-, drogen- oder medikamentenabhängig.
  • Ein Drittel entwickelt psychische oder soziale Störungen (teilweise überlappend mit dem ersten Drittel).
  • Ein Drittel kommt mehr oder weniger unbeschadet davon. 

Viele erwachsene Kinder aus suchtbelasteten Familien suchen sich wieder eine/n süchtige/n Lebenspartner/in, kämpfen mit psychosomatischen Störungen, nichtstofflichen Abhängigkeiten und tun sich allgemein schwer, ihren Platz im Leben zu finden.“

Wenn man sich überlegt, wieviele Millionen Menschen in Deutschland durch den sogenannten Graubereich wabern, also all diejenigen, die sich zwischen dem Stadium einer körperlichen Alkoholabhängigkeit und einem Gelegenheitstrinker befinden, und Kinder haben, kann man sich in etwa vorstellen, wieviele Millionen Kinder davon betroffen sind. Es gibt endlos viele Menschen im Graubereich, die gar nicht wissen, dass sie bereits ein Alkoholproblem entwickelt haben, weil falsch darüber aufgeklärt wird, weil uns über die Medien ein anderes Bild über Alkoholsucht suggeriert wird und weil Menschen, die im öffentlichen Leben stehen, diese Droge verharmlosen. Hier nochmal meine recherchierten Zahlen zu der Größe des Graubereichs aus dem Jahrbuch Sucht 2021:

Größe der einzelnen Gruppen in Deutschland

AnzahlGruppeBedeutung

3 Mio.
Abhängige Trinker:in*
Nur ein kleiner Prozentsatz davon ist körperlich abhängig.
1,6 Mio. psychisch abhängigZwei Ausprägunsformen:
– Cravings, dt.: Verlangen
– Kontrollverlust
1,4 Mio. AlkoholmissbrauchIhr Leben hat schon langfristig Schaden genommen, z.B. durch Führerscheinverlust, wiederholt die Treppe runtergefallen, Partnerverlust etc.

6,7 Mio.

Riskante Trinker:in*= Menschen, die mehr trinken als von der WHO empfohlen
12,7 Mio.Episodisches
Rauschtrinken*
= Menschen, die in den letzten 30 Tagen mehr als 5 Drinks zu sich genommen haben bzw. sich häufiger als einmal im Monat abschießen
22,4 Mio.gesamt
* Quelle: Ch. Rummel, B. Lehner, J. Kepp, Deutsche Jahrbuch Sucht 2021, Pabst Science Publishers, Lengerich, S. 15 f.

Eigentlich ist die Zahl des Graubereichs noch viel größer, denn die Statistik des Jahrbuchs Sucht erfasst nur die 18- bis 64-Jährigen. Dass man aber schon Alkohol trinkt, wenn man noch keine 18 ist und dass zahlreiche Menschen, die jenseits der Altersgrenze von 64 liegen und noch immer Alkohol trinken, wird im Jahrbuch Sucht nicht erfasst.

Einige aus dem Graubereich sind gewiss auch Eltern. So genau weiß man das nicht, denn dieser Graubereich ist bisher nur sehr wenig erforscht. Dank der Forschungsarbeit von Nathalie Stüben ändert sich das gerade. Nathalie ist gelernte Journalistin, hat ebenfalls eine Alkoholvergangenheit und einen gelungenen Podcast sowie YouTube-Kanal zu dem Thema. Es wird geschätzt, dass in Deutschland rund 2,65 Millionen Kinder mit alkoholbelasteten Eltern unter einem Dach wohnen. Durch den riesigen Graubereich ist die Dunkelziffer weit höher.

Hier mal ein Rechenbeispiel:

Wenn man jetzt mal annehmen würde, dass jeder:e dritte Trinker:in aus dem besagten Graubereich mindestens ein Kind hätte, dann wären davon 7,47 Millionen Kinder in Deutschland betroffen. Gemäß den Angaben von NACOA Deutschland entwickeln sich ein Drittel davon, also 2,5 Millionen, gut, aber zwei Dritteln geht es später im erwachsenen Alter nicht so gut, also rund 5 Millionen.

Bei diesen Zahlen wundert es mich nicht, dass man allenfalls mal einen Platz auf der Warteliste bekommt, wenn man sich um einen Therapieplatz bei einem:er Psychologen:in bemüht.

Wenn vom Bund eine ordentliche Aufklärung darüber betrieben werden würde, was Alkoholsucht eigentlich ist, könnte das eine richtige Stellschraube für unser Gesundheitssystem bedeuten. Seelsorger, also Psychologen, Psychiater, Sozialarbeiter, Priester etc., hätten dann gewiss sehr viel mehr Kapazitäten. Aber die Alkohollobby ist eine Starke hierzulande. Amtierende Mininster sind teilweise Bierbotschafter:innen oder ehemalige Weinkönige:innen.

Wenn politisch Verantwortliche, Krankenkassen und Ärzte:innen sich nicht immer nur auf dieses eine Drittel berufen würden, also die, die unbeschadet aus so einer Familiengeschichte herauskommen, sondern wenn der Blick auf die zwei Drittel, also auf die Mehrheit der Kinder aus suchtbelasteten Familien, gerichtet werden würde, dann wäre schon vielen von uns geholfen. Denn Zeit heilt nicht immer alle Wunden. Kinder kommen nicht einfach so darüber hinweg. Die Mehrheit der Kinder trägt Langzeitschäden davon, wie die Langzeit-ACE-Studie zutage gebracht hat. ACE steht für Adverse Childhood Experiences. Frei übersetzt geht es hierbei um schädliche Kindheitserfahrungen. Die Studie wurde 1998 veröffentlicht und über 17.000 Probanden nahmen daran teil. Darunter handelte es sich um weitegehend gut ausgebildete Menschen aus der amerikanischen Mittelschicht mit einer relativ gesunden Lebensführung. Zusammengefasst befanden die Forscher mittels der Punkte, die im Fragebogen erfasst wurden, starke Anzeichen für das spätere soziale Funktionieren, hohe Anfälligkeit für diverse Krankheiten, deshalb auch höhere medizinische Kosten und möglicherweise auch einen früher eingetretenen Tod.[3]

Das Unglück erwachsender Kindern aus suchtbelasteten Familien zeigt sich nicht so eindeutig. Es ist eher ein heimliches Unglück, ein Schmerz, dessen Ursache man vergessen hat, eine unbestimmbare Qual. Die meisten merken erst, dass etwas nicht stimmt, wenn sie zwischen 25 und 35 Jahre alt sind.[4] Sie sehen sich selbst nicht als Opfer. Sie leben ja nicht mehr zu Hause. Viele von ihnen haben gute Schulabschlüsse und meist eine eigene Familie. Den hohen Alkoholkonsum, den sie aus ihrem Elternhaus kennen, haben sie als Normalität wahrgenommen. Oberflächlich betrachtet kommen sie gut mit ihrem Leben zurecht. Sicher haben erwachsene Kinder aus suchtbelasteten Familien Probleme so wie andere Menschen auch. Aber sind das dann genau die gleichen Probleme? So akzeptieren viele von ihnen ihr Leben, doch kann dieses Hinnehmen nicht auch bedeuten, dass sie nur geringe Ansprüche an Liebe und Fürsorge stellen und sich mit wenig zufriedengeben?

Eine Zahl, die mich persönlich sehr erschreckt hat und die ich hier teilen möchte, ist, dass eine Befragung der Ehefrauen von abhängig Trinkenden ergab, dass 60 Prozent einen trinkenden Vater hatten.[5] Diese Zahl verwundert zunächst, weil diese Frauen ja bereits Alkohol gebeutelte Kindheiten hinter sich gebracht haben. Sich dann als Lebenspartner ebenfalls einen süchtigen Menschen auszusuchen, ist schon höchst merkwürdig. Aber genau hier liegt auch die Krux: Wenn ich von klein auf gelernt habe, dass Liebe Schmerz, Unsicherheit und Instabilität bedeutet, dann suche ich mir ganz unbewusst für mein erwachsenes Leben genau wieder solche Strukturen aus. Ich kenne es ja nicht anders.

Deswegen ist diese Aufklärungsarbeit der #nüchtern-Bewegung so extrem wichtig für mich und für uns alle. Denn es geht hier auch um die Kinder und damit um unsere Zukunft. Durch die Klimakatastrophe werden auf unsere Kinder einige Krisenzeiten zukommen. Dafür brauchen sie keine psychischen Störungen oder gar eine eigene Substanzabhängigkeit, sondern ein gewisses Maß an Resilienz sowie eine starke Persönlichkeit. Das gelingt, indem es mehr Kindern vergönnt wird ihre Kindheit im vollen Umfang auszuleben. So werden sie als Erwachsene von morgen reale Chancen haben die Krisen ihres Lebens gut zu überstehen.

Falls ihr die Interessenvertretung von Kindern aus suchtbelasteten Familien, also NACOA Deutschland e.V., unterstützen wollt, so ist das u. a. über eine Spende möglich. Hier geht’s zum Spendenformular!


[1] Fast jedes sechste Kind kommt aus einer Suchtfamilie. https://nacoa.de/, Stand: 01.02.2022

[2] Ursula Lambrou, Familienkrankheit Alkoholismus, Rowohlt Taschenbuch Verlag, Hamburg, 7. Auflage, Januar 2020, S. 184 ff.

[3] www.avahealth.org, Serach: ACE Study, ACE Sudy Summary, ACE Study Summary of Findings, Video Minute 2:50.

[4] Ursula Lambrou, Familienkrankheit Alkoholismus, Rowohlt Taschenbuch Verlag, Hamburg, 7. Auflage, Januar 2020, S. 26

[5] Wolin, Stephen: Alcohol Transmission via Family Ritual. Unveröffentlichte Studie, 1973, zitiert nach: Wegschneider, Sharon, 1981, S. 30