Für ein positives Leben ohne Alkohol.

Nüchternheit, Sensibilität

Alkohol und Sensibilität

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Bild: Cosmin Serban // unsplash

Für (hoch)sensible Menschen ist Alkohol durchaus ein brisantes Thema, da der Konsum bekanntlich Gefahren und Risiken mit sich bringt. Schon für normalsensible Menschen ist die allzeit verfügbare und gesellschaftlich anerkannte Droge Alkohol längst nicht immer einfach zu beherrschen. Wie auch Kaffee[1], Medikamente und andere Drogen, wirkt Alkohol bei manchen (hoch)sensiblen Menschen stärker als bei Normalsensiblen.[2] Sie vertragen weniger, spüren den Rausch intensiver, aber auch die Versuchung, die Welt dort draußen mit ihrer Masse an Reizen einfach auszusperren und mal nichts mehr zu spüren, einfach mal nicht mehr (hoch)sensibel zu sein und gar nichts mitzubekommen, kann sehr groß sein.[3] Und es funktioniert: Der Alkohol kann eine Mauer errichten, die zwischen dem (hoch)sensiblen Menschen und all den Reizen und Eindrücken steht, denen er Tag für Tag nahezu schutzlos ausgesetzt ist.  Der Alkohol kann Schallmauer und Schutzwall sein und dafür sorgen, dass weniger Informationen zum Gehirn vordringen, die verarbeitet werden müssen. Genau hier liegt die Gefahr: Wenn die Alltagsdroge Alkohol benutzt wird, um den vermeintlichen „Fluch“ der Sensibilität auszuschalten, wenn man Zuflucht, Ruhe und Normalität im Alkohol sucht, dann ist der Schritt hin zum Alkoholismus eigentlich schon getan. Denn selbst wenn noch nicht jeden Tag und nicht in großen Mengen getrunken wird, ist der Grundstein zur Sucht, zur seelischen Abhängigkeit, zur Instrumentalisierung der Droge als Seelentröster und Weltverbesserer gelegt. Wer also (hoch)sensibel ist und Hilfe, Erleichterung oder Trost im Alkohol sucht, der sollte sich bewusst machen, dass er im schlimmsten Fall eine Charaktereigenschaft, mit der es nicht immer einfach ist umzugehen, gegen die chronische und nicht selten tödliche Krankheit Alkoholismus eintauscht – ein Tauschgeschäft, bei dem man nicht gewinnen kann.

Die Wirkung von Cortisol in Verbindung mit Alkohol

Leider gibt es keine mir bekannte Studie, die untersucht hat, ob es einen Zusammenhang zwischen Alkoholabhängigkeit und Hochsensibilität gibt. Jedoch gibt es zahlreiche Studien über die Wirkung von Cortisol in Verbindung mit Alkohol. Cortisol ist, so wie das Adrenalin, ein Stresshormon.

Aufgrund ihrer charakterlichen Prägung der überreizten Sinneswahrnehmung reagieren (hoch)sensible Personen gestresster auf ihre Umwelt als durchschnittlich sensible Personen. Bei der Entstehung und Aufrechterhaltung von Alkoholabhängigkeit spielt Stress als Risikofaktor eine wichtige Rolle. Insbesondere sozialer Stress ist hier von großer Bedeutung, also beispielsweise anhaltende berufliche Überforderung, Ausgrenzung und Mobbing, permanente zermürbende Auseinandersetzungen in der Partnerschaft, aber auch existentielle Nöte, wie Diskriminierung, Arbeitslosigkeit oder drohender Verlust der Existenzgrundlagen. Hinzu kommt die feinfühlige Wahrnehmung für Stressoren gesellschaftlicher Art, wie z.B. Einsamkeit, Ungerechtigkeiten, das Leiden von anderen Menschen mitzubekommen etc. Der Körper reagiert auf sozialen Stress ähnlich wie unter Lebensgefahr: Die Nebennieren schütten verstärkt Adrenalin und das Stresshormon Cortisol aus. Der Körper verbraucht folglich die gespeicherten Energiereserven. Das Herz-Kreislaufsystem wird hoch gefahren. Die Muskeln spannen sich an. Das Immunsystem verändert sich.[4]

Dadurch, dass HSP einen erhöhten Cortisolwert haben, brauchen sie nur kleinste Mengen an alkoholischen Stoffen bis es wirkt. Wenn Likör im Eis oder in der Torte enthalten ist, fühlt es sich gleich so an, ob sich das Gehirn ein bisschen zusammenzieht. Der Körper benötigt nur sehr kleine Dosierungen, um zu reagieren. Denn Alkohol schießt sofort in den Kopf und „beruhigt„.

Obwohl ich es nicht wissenschaftlich untermauern, vermute ich, dass es vor allem mit der Charaktereigenschaft (Hoch)sensibilität zu tun hat, warum bei mir ein Schluck Rotwein bereits ausreichte, um die Kontrolle zu verlieren. Die Suchtstimme in meinem Ohr wurde beim ersten Schluck angeknipst, die mir stets zu sagen pflegte, dass sie mehr von dieser „beruhigenden Substanz“ will. So blieb es eben nicht nur bei diesem Glas Wein, sondern es wurde stets die ganze Flasche.

Alkohol verfügt aber noch über einen anderen Effekt: Wenn wir ihn trinken, sorgt er am Anfang dafür, dass das Cortisol gedämpft wird. Daher nehmen viele ein Feierabendbier zum Runterkommen zu sich.  Die Schwierigkeit ist, dass diese Wirkung nach ungefähr zwei Stunden abnimmt. Wenn dem so ist, ist unser Stresssystem nach zwei Stunden viel stressanfälliger als vorher. Daher ist es so, dass wir durch Alkohol, langfristig unser Stresssystem schwächen.

Bei HSP reicht ein halbes Glas Wein, um sich am nächsten Morgen mit Katererscheinungen gerädert zu fühlen. Der Gemütszustand geht in Richtung Depression oder depressive Verstimmung. Sie sind dann vollkommen schlapp, obwohl sie am Vortrag nur geringe Mengen zu sich genommen haben. Deshalb ist gemäß Umfragen zu beobachten, dass HSP, die um ihre charakterliche Prägung wissen, häufig keinen Alkohol trinken. Dies berichtet Sandra Quedenbaum, Coach und Trainerin für Hochsensibilität, Trauma und NLP*. Weiterhin erklärt sie, dass sie beobachtet hat, dass HSP mit Dingen aufhören, die ihnen nicht guttun, sobald sie gelernt haben ihre Körperwahrnehmungen wieder ernst zu nehmen. Ihrer Erfahrung nach fällt HSPlern das „Aufhören“ dann meist viel leichter als durchschnittlich sensiblen Menschen. Insofern ist dies ein positiver Ausblick für all diejenigen unter euch, die ein Problem mit Alkohol entwickelt haben und bis dato ggf. nichts von ihrer (Hoch)Sensibilität wussten.

Nachfolgend fasse ich noch einmal die Gründe zusammen, die mir aufgefallen sind, warum HSP, die nichts über ihr Persönlichkeitsmerkmal wissen, prädestiniert dafür sind, einen problematischen Umgang mit Alkohol zu entwickeln:

  1. Die Einstellung: Ich möchte jetzt einfach mal nicht mit allen Sinnen fühlen und trinke deswegen.
  2. HSP nehmen sich nicht die Zeit und den Raum, den sie brauchen, um herunter zufahren. Sie wollen immer noch am normalen Leben teilnehmen und trinken, um die Reizschwelle zu senken.
  3. Hochsensible haben häufiger ein Stressgefühl als Menschen, die nicht hochsensibel sind. Dies ist mit Alkohol regulierbar.
  4. Zwei Drittel aller Hochsensiblen sind introvertiert. Enthemmung spielt also eine wesentliche Rolle. Deswegen ist die Gefahr in einen Alltagsalkoholismus zu geraten, den man gar nicht als Abhängigkeit wahrnimmt, sehr hoch.

Wie HSPler mit Alkohol umgehen sollten

Am besten ist es als (hoch)sensibler Mensch Alkohol zu meiden. Alkohol wirkt zunächst wie ein Verstärker und verstärkt alle Eigenschaften, die der (hoch)sensible Mensch mit sich trägt. Das bezieht sich auf die Positiven sowie auch auf die Negativen. 

Die Situationen, die man ohne Alkohol schlecht erträgt, werden noch unerträglicher. Die Gedanken, die einem im Kopf herumschwirren und sich nicht abschalten lassen, werden mehr, schneller und unkontrollierbarer. Die Flut von Reizen, die von außen kommt, verstärkt sich. Erst bei höherem Alkoholkonsum kommt es zu einer Dämpfung, die zwar als Erleichterung empfunden werden kann, aber auch der erste Schritt in eine Abhängigkeit ist. Das, was viele (hoch)sensible Menschen aber am dringendsten brauchen, also Ruhe, Entspannung und ein Herunterfahren der überreizten Wahrnehmung, findet nicht statt. Auch wenn das subjektive Empfinden bei hohem Alkoholkonsum etwas anderes vorgaukelt.

Wie ist das bei euch? Seid ihr auch HSP? Könnt ihr mit diesem Persönlichkeitsmerkmal etwas anfangen oder eher nicht? Wie geht ihr damit um in Bezug auf eure Nüchternheit? Ich persönlich finde dieses Persönlichkeitsmerkmal unheimlich schwer zu greifen und in Worte zu verpacken, da es, so wie das Gefühl der Einsamkeit, sehr subjektiv empfunden wird und individuell abhängig ist.


[1] B. Smith, R. Wilson und R. Davidson: „Electrodermal Activity and Extraversion: Caffeine, Preparatory Signal and Stimulus Intensity Effects“, in: Personality and Individual Differnces 5 (1984), S. 59-65

[2] Vgl. Elaine N. Aron, Sind Sie (hoch)sensibel?, mvg Verlag, München, 7. Auflage 2011, S. 334

[3] Vgl. ebda., S. 29

[4] Stefanie Reinberger: Der Schluck gegen den Druck. Erschienen am 01.07.2020. Auf: dasgehirn.info. https://www.dasgehirn.info/krankheiten/sucht/der-schluck-gegen-den-druck, aufgerufen am 22.04.2022

* Das Neuro-Linguistische Programmieren (kurz NLP) ist eine Sammlung von Kommunikationstechniken und Methoden zur Veränderung psychischer Abläufe im Menschen, die unter anderem Konzepte aus der klientenzentrierten Therapie, der Gestalttherapie, der Hypnotherapie und den Kognitionswissenschaften sowie des Konstruktivismus aufgreift. Die Bezeichnung selbst soll ausdrücken, dass Vorgänge im Gehirn (Stichwort: „Neuro-“) mit Hilfe der Sprache (engl. linguistic = „sprachlich“) auf Basis systematischer Handlungsanweisungen änderbar sind (Stichwort: „Programmieren“) – es besteht kein Zusammenhang zur wissenschaftlichen Disziplin der Neurolinguistik oder der Linguistik allgemein.