Vor wenigen Wochen habe ich eine sehr interessante Frau kennen gelernt. Sie lebt mittlerweile seit über drei Jahren nüchtern, ohne jemals ein Programm oder ähnliches gebucht zu haben. Sie hat sich also allein mithilfe des medialen und barrierefreien Inputs, den es in unserer nüchtern-Bewegung schon gibt, auf ihren Weg in ein abstinentes Leben gemacht; also durch das Hören von Podcasts, durch QuitLit Bücher oder auch durch Nathalies YouTube-Videos. Unser Kontakt kam über Instagram zustande, weil sie auf der Suche nach Austausch mit anderen nüchternen Menschen war. Ich nenne sie in diesem Text Anna. Unser erstes Gespräch und unser erstes Treffen gingen mir sofort unter die Haut. So geht mir das häufig, wenn ich mich mit Menschen aus der nüchtern-Bewegung treffe.
Meine 90 Tage Challenge
Ich erzählte ihr, dass ich mir in den letzten fünf Jahren angewöhnt hatte in den ersten 90 Tagen eines neuen Jahres, also immer zum 1.1. auf Industriezucker zu verzichten. Ich tue das, weil sich in den vergangenen Jahren gezeigt hat, dass mir diese Art von Ernährung gut tut, vor allem mental. Denn wenn ich ehrlich bin, gab es in den ersten Jahren meiner Nüchternheit eine starke Suchtverlagerung Richtung Zucker. Den Zucker wegzulassen, fällt mir viel schwerer als den Alkohol wegzulassen.
Komplementär zu dem Vorhaben der zuckerfreien Ernährung zum 1.1. melde ich mich bereits im November des Vorjahres zum Hannover Lauf an, der in der Regel Anfang April des Folgejahres statt findet. Das bedeutet, dass ich auf jeden Fall in den Monaten von Januar bis März ordentlich trainieren muss, um meine ehrgeizigen Zeitziele für die Läufe zu realisieren. Dieses Jahr hat meine eingeplante Trainingszeit keinen Raum für eine ordentliche Halbmarathon-Vorbereitung zugelassen. Deswegen habe ich mich in diesem Jahr für den 10 km-Lauf entschieden. Den wollte ich unter einer Stunde packen. Das war das Zeitziel, das ich mir gesetzt hatte. Zudem werde ich das Gefühl nicht los, dass mir letztes Jahr der Halbmarathon gesundheitlich zum Verhängnis geworden ist, weil ich zwei Wochen danach mit einer starken Mittelohr-Entzündung ins Krankenhaus musste. Durch die Trauer um den Verlust meines Bruders und die starke körperliche Belastung beim letzten Halbmarathon war das alles gewiss einen Tick zu viel für mich und mein Immunsystem. Deswegen sollte es für dieses Jahr nur der 10 km-Lauf sein. Diese Entscheidung war auch ein riesiges Zugeständnis an mich und mein Zeitmanagement.
Das Vier Säulen Konzept
Als ich bei unserem Treffen Anna von meiner Zucker Challenge und von meinem Laufvorhaben für April berichtete, erzählte sie mir von dem Vier-Säulen-Konzept für ein langes und zufriedenes Leben. Diese vier Säulen sind: gute Ernährung, ausreichender Schlaf, regelmäßige Bewegung und etwas, das sie Recovery nannte, wobei für uns beide die Frage offen blieb, was mit Recovery gemeint war. Bei unserem Gespräch legten wir das sehr individuell aus: Für mich ist Recovery so etwas wie schreiben, Tagebuch oder mein Dankbarkeitstagebuch zu führen, meine Musikinstrumente zu spielen oder zu puzzeln. Vielleicht auch so etwas wie mein Spanischkurs, weil das etwas ist, das mich jeden Donnerstagabend aus meinem hektischen Mama-Gewusel heraus holt. So habe ich einen Abend in der Woche, an dem ich bewusst etwas nur für mich tun kann. Mir aktiv in meinem vollgestopften Wochenplan Zeit für die Dinge zu nehmen, die mich entspannen, das ist für mich Recovery. Denn nachdem ich mir die Zeit für all die schönen Dinge des Lebens genommen habe, sehe ich die Welt und alles, was so darin passiert, klarer.
Nachdem ich mich nun mit diesem Vier-Säulen-Konzept etwas mehr befasst habe, ist Recovery tatsächlich gleichzusetzen mit Entspannung. Das Ganze geht zurück auf den britischen Arzt mit indischen Wurzeln Rangan Chatterjee. Ich hatte von diesen vier Säulen gewiss schon zuvor gehört, aber ich hatte nie bewusst dafür gesorgt, sie in meinem Leben umzusetzen bis eben zu dem Gespräch mit Anna. Seitdem ist mir klar geworden, dass ich unterbewusst bereits relativ viel von dem 4-Säulen-Konzept umsetze, weil es wohl so in mir verankert ist. Gewiss spielt da auch mein Elternhaus eine gewisse Rolle, wo ich bei vielen Dingen gut gefördert worden bin: Ich war zum Beispiel als Kind und Jugendliche im Leichtathletik-Verein. Regelmäßige Bewegung ist daher kein Fremdwort für mich. Oder ich wurde stets darin bestärkt verschiedene Musikinstrumente zu erlernen etc.
Nichtsdestotrotz hat sich in den letzten Jahren etwas bei mir eingeschlichen, was mich regelmäßig aus meiner Balance schmeißt: Ich schlafe nicht gut und nicht mehr ausreichend. Aus verschiedenen Gründen, die meiner Meinung nach einen hormonellen Ursprung haben, leide ich also unter Schlafstörungen. Das heißt, dass ich manchmal Nächte erlebe, bei denen es mir nicht vergönnt ist, länger als drei oder vier Stunden zu schlafen.
Wie bescheiden sich so ein Folgetag dann anfühlt, wenn ich schlecht geschlafen habe, mag ich kaum erzählen. Alles ist einfach nur grau, meine Gedanken sind negativ und ich muss ständig essen, um meinen körpereigenen Energiehaushalt auszugleichen. Eigentlich so wie damals zu Katertagen. Ich denke, dass das auf Dauer zu Gewichtsproblemen führen kann. Jedenfalls achte ich seit dem Gespräch mit Anna darauf, weniger Kaffee zu trinken. Im Moment mache ich das nur noch morgens. Früher habe ich oft auch nachmittags Kaffee getrunken. Für mich ist das wirklich eine sinnvolle Stellschraube gewesen. Denn durch den reduzierten Kaffeekonsum kam tatsächlich das Durchschlafen nachts zurück. Meine Gedanken kreisen nun wieder mehr um meine Haben-Seite des Lebens und weniger um das, was gerade alles schief läuft. Durch den reduzierten Kaffeekonsum konnte ich also diese Negativ-Spirale durchbrechen. Die Begegnung mit Anna zeigte mir ein weiteres Mal, dass ich die besseren und mehr Früchte tragenden Gespräche, mit Menschen aus der nüchtern-Bewegung führe. Denn ohne Anna wäre ich nicht auf die Idee gekommen das mit dem schlechten Schlaf aktiv anzugehen.
Mein Lauf
Mein großer Wettkampflauf liegt mittlerweile eine Woche zurück. Die Stimmung am Wegrand war wieder bombastisch. Mein Zeitziel habe ich geschafft. Ich habe den 10 km-Lauf in 55 Minuten gepackt und bin damit 27. in meiner Altersklasse geworden. Das ist insofern verwunderlich, weil ich die 10 km im Training nie unter 01:20 h geschafft habe, auch wenn ich versucht habe schnell zu laufen. Ich denke, dass mich die jubelnden Zuschauer und Zuschauerinnen am Wegrand da tatsächlich getragen haben. Ich feiere jeden privaten Balkon, an dem wir vorbei gelaufen sind, der extra für uns seine Boxen rausstellt und zum Beispiel „Eye oft he Tiger“ von Survivor spielt, weil all die Rocky-Filme meine Sportmotivation pur sind. Der Hannover Lauf kommt in meinen Augen einem Volksfest gleich. Wir Läuferinnen und Läufer werden vom Wegrand aus bejubelt und andersrum feiern wir auf der Strecke, die , die uns anfeuern. Das ist so eine schöne und gebende Atmosphäre, die ich sehr liebe und mich für diese gute Zielzeit gewiss beflügelt hat; also ein sehr verbindendes Erlebnis mit einer Stadt, die ich sonst eigentlich nicht wirklich mag.
Ein weiterer körperlicher Aspekt für diese überraschend gute Zeit könnten tatsächlich auch meine Allergien sein: Seit Anfang März kämpft meine Nase mit den Frühblühern. Das war genau die Zeit, in der ich das mit den schnelleren Läufen geübt habe. Mein Körper war seit Anfang März durch die Allergien extrem schwach. Ich war also stets mit laufender Nase am Trainieren. Es ist durchaus möglich, dass deshalb meine ganzen Tracking-Ergebnisse so langsam ausfielen. Also vielleicht hat mich dann die Allergie für den Wettkampftag irgendwie gestärkt? Ich weiß es nicht.
Das Wetter hat mit blauem Himmel super mitgespielt. Mein Start war um 09:00 Uhr in der Früh und da waren es nur 2 Grad. Im Startblock selbst war mir also richtig kalt, aber fürs Laufen war es gut.
Die Schüler- und Familienläufe am Vortag
Hier möchte ich ein großes Lob an die Stadt Hannover und die Organisation dieses phänomenalen Laufes aussprechen: Es ist schon eine große Besonderheit, dass wir an diesem Laufwochenende eigentlich durch die gesamte Stadt laufen können und extra für uns sämtliche Straßen gesperrt werden. Mir gefällt auch die Start- und Zielkulisse direkt vor dem Neuen Rathaus. Speziell am Familientag hat dieses Jahr meine Familie das erste Mal teilgenommen. Dieser fand sozusagen am Pre-Race-Tag statt. Hier hatten sämtliche Schülerinnen und Schüler sowie Familien mit jüngeren Kindern die Möglichkeit einmal selbst ein paar 800-m-Runden vor der schönen Kulisse des Neuen Rathauses zu drehen. Mein Sohn war über seinen Hort mit meinem Mann dort angemeldet. Ich selbst habe meine Männer an dem Tag nur angefeuert, da mein Trainingsplan besagte, dass ich am Tag vor dem Wettkampf nicht mehr laufen gehen sollte. Also hat mein Mann, der Laufen eigentlich bäh findet, unseren Sohn beim Familientag begleitet. (Für unsere Kids macht er wirklich alles : – ) So konnte unser Junge zum ersten Mal einen richtigen Wettkampf mitlaufen: mit Flatterband am Start, durchs Ziel laufen, eine Finisher-Medaille und eine Urkunde ergattern sowie von uns allen dafür gefeiert werden. Das waren also auch sehr viele Endorphine für unsere Kleinen, gepaart mit einem starken Gefühl der Selbstwirksamkeit. Auch dieses Gefühl voller Adrenalin im Startblock zu stehen, kann ihnen keiner mehr nehmen. So etwas veranstaltet wahrlich nicht jede Stadt. Nach dem Familienlauf hat die Laufgruppe meines Sohnes dann noch zusammen auf der schönen Maschteich-Wiese entspannt. Es war also durchweg ein gelungenes Wochenende, und zwar für jeden von uns.
Warum mache ich das?
Selbst wenn ich mein Zeitziel am letzten Sonntag nicht geschafft hätte, denke ich mir, dass es eigentlich gar nicht um die Zeit geht, sondern um meinen Weg dorthin, also meinen Trainingsplan von Januar bis März. Es ist einfach eine sehr gute, gesundheitsfördernde Maßnahme sich regelmäßig zu bewegen. Ich mache das ein Stück weit disziplinierter und regelmäßiger, wenn ich weiß, dass ich im April bei einem Lauf teilnehme. Es geht mir nicht darum, dass ich bei jeder Trainingseinheit Hochleistung erbringe, sondern lediglich darum, dass ich mich an die Regelmäßigkeit im Trainingsplan halte. Der Weg zum großen Lauf ist also mein Ziel, nicht der Lauf selbst. Die Regelmäßigkeit ist das, was sich so gut für mich anfühlt.
Auch meine Zuckerfrei-Challenge ist nun seit dem 1. April offiziell beendet. Offen gestanden mache ich eine solche Challenge nicht, um dann ab April wieder so weiter zu naschen, wie ich das im Dezember gemacht habe, sondern ich mache diese 90-Tage-Zuckerfrei-Challenge, um möglichst zuckerfrei durchs Leben zu gehen. Denn in den Phasen ohne Zucker geht es mir so viel besser. Das durfte ich in den letzten Jahren schon häufig erfahren. Auch die neuen Koch- und Essgewohnheiten, die ich mir dadurch angewöhnt habe, tun mir gut. Sie unterstützen mich in meinem bewussten Umgang mit gesundem Essen, was zugleich auch häufig sehr ist. Deswegen verlängere ich meine Zucker-Challenge nun bis zum nächsten Sommerurlaub. Falls ich das schaffe bis zu meinem Geburtstag im August, danach bis zum Wanderurlaub im Oktober, dann weiter bis Halloween. Falls ich das wirklich alles schaffe, verlängere ich nochmal bis zum ersten Advent usw. Bei mir funktioniert das mit den zeitlichen Meilensteinen ganz gut. Wir werden sehen, ob mir das gelingen wird.
Vielleicht ist ja das Vier-Säulen-Konzept für eine langfristige und stabile Abstinenzstabilität ja auch etwas für dich? Mehr darüber findest du hier.
Bestimmt ist es auch sinnvoll das Buch von Rangan Chatterjee zu lesen, was ich allerdings noch nicht getan haben. Du findest es in jedem Buchladen deiner Wahl oder auch online, zum Beispiel hier.
Ich finde dieses Vier-Säulen-Konzept so inspirierend, weil ich denke, dass Lebensqualität keinen Aufschub duldet. Ich durfte dazu eben einen schönen Artikel von Micky Beisenherz lesen, den er vor zehn Jahren für seinen verstorbenen Radiomoderatorenkollegen Basty Radke geschrieben hat, der im Alter von 40 Jahren ganz plötzlich an seinem Herzinfarkt, während einer Sendung, verstorben ist. Leider ist es so, dass in meinem privaten Umfeld gerade viele Menschen sterben, sei es an Krebs, an einem Schlaganfall oder sonstigem. All das zeigt mir immer wieder, dass das Leben endlich ist und dass mir nach der Ziellinie gewiss nichts geschenkt wird. Deswegen möchte ich auf dem Weg dorthin das meiste für mich rausholen und das Leben, so gut es eben geht, genießen. So ein phänomenales Lauf-Event, wie das, das letztes Wochenende in Hannover stattgefunden hat, trägt ganz bestimmt dazu bei.